Die zustimmung der Liberalen zum sog. "Ermächtigungsgesetz"

Von Erik Schrader

Bei einer Betrachtung der Geschichte des organisierten Liberalismus fallen verschiedene Falscheinschätzungen, Verfehlungen oder selbstverschuldeten Krisen auf. Eine besonders schwerwiegende Falscheinschätzung der damaligen Lage und das daraus folgende fatale Abstimmungsverhalten jährt sich nun in diesem Jahr zum fünfundsechzigsten Mal. 1933 stimmten die linksliberalen Abgeordneten der Deutsche Staatspartei (DStP), die aus der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) hervorging, wie auch die beiden rechtsliberalen Abgeordneten der Deutschen Volkspartei (DVP), für die Annahme des sog. "Ermächtigungsgesetz".

Die beiden liberalen Parteien - DStP und DVP - waren mit fünf bzw. zwei Abgeordneten faktisch im Reichstag nicht mehr vertreten und spielten so bei der Entscheidung für die Annahme des Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich kaum eine Rolle. Dies zeigt sich auch darin, daß Adolf Hitler all seine Anstrengungen auf Verhandlungen mit den zahlenmäßigen vielgrößeren Fraktionen der DNVP und des Zentrums setzte. So blieb zwar die Auslieferung der Republik an die Nationalsozialisten fast das alleinige Geschäft des deutschen Konservatismus, doch die Liberalen beteiligten sich, allerdings in einer wenig rühmlich gespielte Statistenrolle, mit.

Ausgangslage und innenpolitische Vorgaben

Will man das Wirken der DStP nach dem 30.1.1933, das Verhalten der fünf Reichstagsabgeordneten und vor allem ihr Abstimmungsverhalten verstehen, so muß erst geklärt werden, in welchen zeitlichen Rahmen diese Ereignisse fallen.

Nach dem "Sturz” der Regierung der großen Koalition unter Hermann Müller am 27.3.1930 wechselten sich mehrere Minderheitskabinette ab. Diese führten eine Politik gegen das Parlament, indem sie mit sogenannten Notverornungen regierten und im Streitfall mit dem Reichstag diesen einfach auflösten und damit die Parteien in ständige Wahlkämpfe trieben.

Nachdem Kurt von Schleicher am 28.1.1933 als Reichskanzler zurücktreten mußte, wurde Adolf Hitler zwei Tage später die Führung der Reichsregierung vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg übertragen. Der Regierung gehörten neben Adolf Hitler zwei Nationalsozialisten unter zehn Ministern an.

Reichstagsbrand

Aufgrund des Reichstagsbrandes am 27.2.1933 erfolgte am darauffolgenden Tag die Verordnung "zum Schutz von Volk und Staat", sogenannte "Reichstagsbrandverordnung”. Mit dieser Verordnung traten eine Vielzahl von Grundrechten außer Kraft.

Eingebettet in die beschriebene politische Lage, erfolgten die am 5.3.1933 stattfindenden Reichstagswahlen, denen schon nur noch ein halbfreier Charakter bescheinigt werden kann. Bei diesen erreichte die NSDAP 43,9 % der abgegebenen Stimmen, ihr Koalitionspartner DNVP 8 %. Mit 43,9 % war die Macht der NSDAP also noch nicht allzu stark gefestigt, eine Koalition noch immer nötig.

Um diesem Dilemma, mit ungeliebten Koaltionspartnern gemeinsam Politik gestalten zu müssen, nicht noch einmal ausgesetzt zu sein, sollte der Reichstag ein Ermächtigungsgesetz erlassen, um der Reichsregierung vier Jahre Handlungsfreiheit zu gewähren. zuvor mußte aber noch einmal bei den bürgerlichen Parteien, besonders beim Zentrum, um Vertrauen geworben werden, da für die Durchsetzung eines derart verfassungsändernden Gesetzes eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich war.

Nachdem die Fraktionen durch die Annahme des Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich das Parlament quasi auflösten, wurden nach und nach die anderen Institutionen der Weimarer Republik entmachtet.

Handeln der Deutschen Staatspartei

Wenn die DStP letztlich dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich zustimmte und damit zu ihrer eigenen Entmachtung beitrug, so geschah dies doch nicht kampflos. Bevor es zu der entscheidenden Abstimmung kam, bei der schließlich alle fünf DStP-Abgeordneten Theodor Heuss, Reinhold Maier, Hermann Robert Dietrich, Ernst Lemmer und Heinrich Landahl zustimmten, wurden viele Diskussionen um die Annahme oder Ablehnung des Gesetzes geführt.

Dabei lassen sich zwei Hauptargumentationslinien erkennen, vertreten von den auch später noch politisch Aktiven, Theodor Heuss und Reinhold Maier.

Position von Theodor Heuss

Theodor Heuss war von Anfang an gegen die zustimmung zum Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Dies läßt sich zum einen auf Heuss schon früh zum Ausdruck gebrachter negativer Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus an sich und zum anderen auf den Inhalt des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich zurückführen.

Theodor Heuss darf wohl als einer der wenigen liberalen Politiker der Weimarer Republik bezeichnet werden, die schon vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler vor ihm und seinen machtgierigen Anhängern warnte. Er erkannte früh, daß der Nationalsozialismus aufgrund der innerdeutschen Machtkämpfe und der Wirtschaftskrise seine Trägerschichten immer mehr verbreitern konnte. Wenn ihm auch die totalen Konsequenzen der Hitlerherrschaft nicht bekannt sein konnten, wußte er doch um die der Weimarer Republik durch mögliche Kriege und innerdeutsche Aufhetzung drohenden Gefahren. Seine Befürchtungen brachte er in vielen Reichstagsreden zum Ausdruck. Auch veröffentlichte Theodor Heuss 1932 das Buch "Hitlers Weg", in dem er sich auf wissenschaftlicher Ebene mit dem Aufkommen der NSDAP auseinandersetzte.

Wen wundert es da, daß er sich auch mit dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich nicht anfreunden konnte. Es manifestierte nur die von ihm in Augenschein genommenen Gefahren. Er erkannte, daß mit diesem Gesetz wesentliche Werte der Weimarer Verfassung ausgehöhlt wurden. Der sich anbahnende politische Umschwung und die drohende Entwertung der Weimarer Verfassung zugunsten machtbesessener Aggressoren waren seine Hauptargumente im Überzeugungskampf gegen das Gesetz.

Seine eigenen demokratischen Überzeugungen schrieb er daher nieder, um einen Ablehnungsentwurf auf der Reichstagssitzung einzureichen, bei dem über das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich abgestimmt werden sollte. Dazu kam es jedoch nicht, weil die Fraktion, obwohl sie sich zwar vollständig seiner Argumentation anschloß, letztlich aber nicht seinen Ablehnungsvorschlag übernahm. Auch Theodor Heuss selber stimmte in der entscheidenden Abstimmung für das Gesetz, da er unter dem Druck der Fraktionsdisziplin handelte und fürchtete, sonst die noch wenigen Liberalen in zwei Lager zu spalten.

Position von Reinhold Maier

Reinhold Maier kann durchaus nicht als ein Mann bezeichnet werden, der blind und blauäugig an das Gute der Nationalsozialisten glaubte. Dennoch ließ sich Maier von der Krisenstimmung beeinflussen, Argumentationslinien zu entwickeln, die für eine Annahme des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich sprachen. Hauptsächlich führt er an, daß man den Reichstag und die republikanischen Parteien in eine demokratischere Zeit hinüberretten müsse.. Hinzu kam, daß er durch Adolf Hitlers moderates Verhalten am sog. "Tag von Potsdam” blenden ließ. Reinhold Maier wünschte daher mit der Annahme des Gesetzes, daß dadurch wieder eine Regierung vorhanden sei, deren politisches Handeln durch eine Mehrheit im Reichstag legitimiert war. Denn er bezeichnete die Zeit der beiden letzten Präsidialkabinette, als einen zustand der Gesetzlosigkeit. Er hofft auch durch die Annahme des Gesetzes die "Gegenkräfte” (womit Reinhold Maier die DNVP, den Reichskanzler und die Reichswehr meinte) in der Regierung vor der Nationalsozialistischen Bewegung zu stärken. Letztendlich schien Reinhold Maier zu hoffen, daß sich diese Kreise gegen Adolf Hitler durchsetzen werden könnten und dann gemäß des Gesetzes eine längere Zeit, bis sich die Lage in Deutschland wieder beruhigt hätte, regieren könnten. zusätzlich rechnete er im Falle einer Ablehnung des Gesetzes mit bürgerkriegsähnlichen zuständen, die den Staat in seinen Grundfesten erschüttern würden.

Bewertung

Es ist gewiß leicht für den, der nicht dabei war, die damals Tätigen zu kritisieren. Und eine Schuld ist nur denen zuzuschreiben, die diesen Weg bewußt und aktiv beschritten. zu diesen zählten die Mitglieder der Fraktion der DStP niemals. Zwar kann man bei einer Betrachtung des Wirkens der DDP und DStP - nicht nur bei der Annahme dieses Gesetztes - fehlerhaftes Verhalten entdecken. Aber welche Partei, welche Gruppe, welcher Politiker, die in den Jahren 1918 bis 1933 mitwirkte, kann sich von jeder Schuld an dem Scheitern der Weimarer Republik freisprechen lassen? Trotzdem kann man diese nicht für die fürchterlichen Ereignisse im Verlauf der zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, die wir heute kennen und die uns entsetzen, verantwortlich machen.

Insgesamt ist das Abstimmungsverhalten der Mitglieder der DStP als enttäuschend zu bezeichnen. Zwar ist es erfreulich, daß im Gegensatz zur DVP überhaupt noch inhaltlich über die Annahme gerungen wurde und Ängste hinsichtlich der Entscheidung zum Ausdruck gebracht wurden. Damit unterschied sich die DStP nicht nur von der DVP, die sich während der Debatte überhaupt nicht mehr einbrachte, sondern auch vom Zentrum, dessen Parteivorsitzender Prälat Ludwig Kaas in inhaltlich gar nicht zu überzeugender Weise sich für die zustimmung zum Gesetz aussprach. Trotz der schwachen Bekennung zur Demokratie und des Erkennens der Gefahr durch einen totalitären Machthaber, kann dies nicht mit dem mutigen Verhalten der SPD-Fraktion verglichen werden, deren anwesende Abgeordnete geschlossen gegen das Gesetz stimmten.

Die Abgeordneten der DStP-Reichstagsfraktion machten sich damit am größten Sündenfall des politischen Liberalismus in Deutschland schuldig und beschädigten sich selber schwer. Theodor Heuss machte dies 1967 mit folgender Äußerung noch einmal deutlich: ”Jeder von uns, der als Publizist oder als Politiker zu Entscheidungen gezwungen war, die er später bedauerte, hat Dummheiten gemacht. Doch dieser Begriff ist zu schwach für die zustimmung zu diesem Gesetz, und auch das Wort später trifft nicht die innere Lage; denn ich wußte schon damals, daß ich dieses Ja nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen kann”.